Schuld und Scham

14. September 2021

„Im Bad ist in einer Ecke schon ganz lang ein Spinnennetz. Kannst du da nicht mal richtig putzen?“

Bumm.

Es ist nicht die Tatsache, dass ich wohl etwas nachlässig geputzt habe... Es ist der Tonfall. Mein Sohn hat so vorwurfsvoll und wütend geklungen. So fürchterlich ernst. Das diffuse Schuldgefühl war sofort wieder da.

Argh...

Dass ich ziemlich viel Spielraum habe was Ordnung betrifft - dazu kann ich inzwischen stehen und verbundener reagieren, wenn sich jemand daran stört. Was mich hier umtreibt, ist: Worum geht es bei den Spannungen zwischen mir und meinem Sohn eigentlich wirklich? Unter den offensichtlichen Bedürfnissen ist noch was anderes. Allerdings beunruhigt mich, was ich dort in der Tiefe wahrnehme: Er macht mich für die Trennung verantwortlich. Ich kann das nicht mit Sicherheit sagen, es bleibt also eine Annahme. Aber ich werde dieses Gefühl nicht los…

In den Momenten, wo mich die Schuldgefühle runterziehen wollen, schaue ich ganz bewusst auf die Bedürfnisebene: Was braucht er, damit sich der Vorwurf und der Groll in ihm nicht verhärten? Dann kommt: Aufmerksamkeit, Nähe, Miteinander. Mmmhh… Da ich mich allerdings nur schwer in die Pokémon-Welt reindenken kann (was auch immer wieder zu Enttäuschungen auf seiner Seite führt), ist es am einfachsten und schönsten, wenn wir zusammen etwas unternehmen. Zu zweit. Wie gestern, als wir zusammen ins Naturbad sind. Wir hatten wenig Zeit und doch hat es sich angefühlt, als sei die Zeit unendlich. Er ist gerutscht und gesprungen und wisst ihr was?? Ich auch. Ich bin vom 3-Meter-Turm runter (wann hab ich das das letzte Mal gemacht??) und von dem federnden ein-Meter-Brett (nein, kein Kopfsprung;-)

Boaah - sowas machen wir viel zu selten.

Dabei stärkt es mein Vertrauen wie nichts anderes. Dass wir uns irgendwann gegenseitig mehr zuhören können, als das im Moment möglich ist. Ich ihm und er mir. Und erleben, dass Wahrheit immer vielschichtiger ist, als das, was uns Wut und Schuld einreden möchten…

 

5. Februar 2021

Wie?? Wenn ich Schuldgefühle habe, dann mache ich mir doch Sorgen, dass die Beziehung leidet und denke die ganze Zeit an den anderen. Ich bin dann doch bereit, etwas zu tun oder zu sagen, damit alles wieder gut wird. Warum soll das selbstbezogen sein?

Weil du in dem Moment genau auf diesen eine Wunsch fixierst bist: Dass er/sie etwas sagt oder tut, was DIR zeigt, dass alles wieder gut ist. Dass er nicht mehr sauer ist. Dass er dich immer noch liebt. Du spürst die Schwere in deiner Brust oder die Unruhe im Bauch und möchtest dich wieder entspannen können. Deshalb möchtest du nicht hören, dass es z.B. anstrengend und nervenaufreibend war, offiziell im Homeoffice zu arbeiten, in Wirklichkeit vor allem aber mit den Kids beschäftigt gewesen zu sein… Während du etwas für dich gemacht hast, um neue Kraft zu tanken. Dich dafür gefühlsmässig zu öffnen, würde deine Schuldgefühle nur verstärken. Lieber zählst du deine guten Gründe auf, warum es doch später geworden ist als abgemacht...

Wirklich?

Ich behaupte, dass noch etwas anderes passieren kann, wenn du dein Gegenüber einlädst, mit dir zu teilen, was so schmerzhaft für ihn ist: Mitgefühl und Verbindung!

Dafür braucht es deine Bereitschaft, zuzuhören und dich von dem, was du hörst, berühren zu lassen - ohne dabei in die Schuld zu fallen!!

Das ist leichter gesagt als getan. Es braucht nämlich auch einen bewussten und effektiven Umgang mit der Stimme, die dir immer wieder erzählt, dass du etwas falsch gemacht hast. In der GFK nennen wir sie die Wolfstimme. Was sie will und wie du sie streicheln kannst und dadurch auf der Ebene der Bedürfnisse mit dir in Verbindung kommst, beschreibe ich im nächsten Post.

Hier und jetzt möchte ich diese Ahnung in dir wecken: Es ist möglich, einen zarten Moment mitfühlender Verbindung zu erleben - auch wenn du gerade etwas getan hast, was bei dir Schuld und beim anderen Ärger o.ä. ausgelöst hat. Ist das nicht eine gute Neuigkeit!?

 

8. Februar 2021

„Es liegt an mir. Ich habe irgendetwas falsch gemacht.“ Jeder kennt diese Stimme. Sie kann so laut werden, dass unsere Grundstimmung depressive Züge bekommt und unser Fühlen dumpf und stumpf wird. Klar, dass wir von ihr frei sein wollen.

Gleichzeitig: Ich bin überzeugt, dass alles, was in uns lebendig ist, in der Tiefe mit Bedürfnissen verbunden ist. Unter allem - sei es noch so hässlich - funkelt und strahlt etwas Schönes. Also auch unter Gedanken wie „Du musst lernen, gelassener zu sein!“ und „Du nimmst dich selbst zu wichtig, du solltest dich mehr zurückhalten!“ etc.

Was möchte sie?

Dass wir lernen und wachsen. Das ist das Bedürfnis, das sie ins Leben bringen möchte. Wenn wir uns nur anstrengen und viel dafür tun, um uns zu ändern, werden wir irgendwann einmal ein besserer Mensch sein. Und dann? Dann haben wir Liebe verdient! Aha. Das Dumme ist nur, dass es uns nur schwer gelingt, uns zu verändern, wenn wir innerlich angespannt sind. Jedenfalls ist es auf dem Weg dann nicht besonders lustig... Auch weil der Stimme immer wieder etwas einfällt, was wir falsch gemacht haben und besser machen müssten. Wir werden also nie der (Selbst-)Liebe würdig sein...

Gibt es eine Alternative? Ja. In der GFK nennen wir sie die Giraffenstimme. Sie lädt uns ein, uns mit den Bedürfnissen zu verbinden, aus denen heraus wir gehandelt haben und zu bedauern, dass wir bei jemandem Schmerz ausgelöst haben. Aus dieser Verbundenheit entsteht Entspanntheit - ein guter Ausgangspunkt, um sich mit einer Absicht für die Zukunft zu verbinden. Auf diesem Weg findet ‚geliebt sein‘ im Hier und Jetzt statt - yay!

Wir erschrecken vielleicht, wenn unser Gegenüber mit Ärger reagiert, aber wir richten unsere Aufmerksamkeit auf das, was bei ihm/ihr und unter dem Ärger liegt. Denn da funkelt und strahlt ja auch etwas Schönes ???? Wir empfinden Mitgefühl und spüren vielleicht den Impuls, etwas anders zu machen. Nicht weil wir müssen oder sollten. Sondern weil uns dieser Mensch etwas bedeutet und wir zum Wachstum der Beziehung beitragen möchten.

 

23. Febraur 2023

„Vielleicht macht es Sinn, dich zu fragen, warum du den ersten Abschnitt geschrieben hast?“

Diese Frage zu lesen, tut weh. Es ist, als ob eine Tür zugehen würde. In das „Warum“ höre ich einen inquisitorischen Unterton hinein. Deshalb braucht es länger, bis ich spüren kann, dass ich einen guten Grund hatte. Ein Bedürfnis, das wie alle Bedürfnisse schön ist. Denn alles, was wir Menschen sagen und tun, ist Ausdruck eines erfüllten oder unerfüllten Bedürfnisses. Also auch die Unterstellung, mit der ich den Kommentar begonnen habe. 

Was auch wahr ist: Ich hatte mir nicht die Zeit genommen, für mich zu klären, was mich an dem Post triggert und dann aus der Ruhe heraus darauf zu reagieren. Obwohl mir bewusst war, dass der Anfang meines Kommentars nicht wirklich dem Spirit der Gewaltfreiheit entspricht, habe ich trotzdem weitergeschrieben… 

Wie oft sprichst du weiter, obwohl du spürst, dass der andere es als Kritik verstehen könnte und dann wahrscheinlich zumacht? Bestimmt öfter als dir lieb ist. Letztendlich passiert das uns allen immer wieder. Natürlich ist es wünschenswert, dass wir verlangsamen und unsere Worte achtsam wählen, bevor wir den Mund auf machen. Allerdings kann das auch dazu führen, dass wir so lange überlegen, wie wir etwas sagen, bis wir es gar nicht mehr sagen… 

Das Schönste, das mir passieren kann, wenn ich mich nicht so ausgedrückt habe, wie ich es eigentlich gern tue? Dass mein Gegenüber trotzdem neugierig wird. Und sich die Zeit nimmt, zu den Bedürfnissen unter meinen Worten hinzuspüren. Und dann eine emphatische Vermutung in Form einer offenen Frage stellt. Klassisch hört sich das so an: „Hat … (Beobachtung) damit zu tun, dass dir … (Bedürfnis) wichtig ist?“ Natürlich kann man das der eigenen Ausdrucksweise anpassen. So dass ein Austausch auf einer tieferen Ebene entstehen kann. Denn die Frage von oben lässt mich allein zurück. 

Was ich auch immer mehr schätze: Wenn jemand kritische Worte an sich heranlassen kann. Und für sich prüft, ob sie einen wahren Kern treffen. Und dann mit mir ins Gespräch geht. 

 

6. November 2021

Ich habe mich vor Kurzem bei meinem Bruder für etwas entschuldigt. Ich habe gesagt, dass ich einen Fehler gemacht habe.

Die Situation zwischen uns war extrem angespannt und ich wollte ganz sicher sein, dass ich ihn mit dem, was ich sage, erreiche. Hätte ich „Ich bedaure, dass…“ gesagt und irgendetwas davon, was sich für mich erfüllt hat, als ich gemacht habe, was ich gemacht habe, hätte das seine Wut, die so oder so schon gross wahr, wahrscheinlich nur noch mehr angefacht. Deshalb habe ich eine Sprache benutzt, die er versteht.

Dass ich einen Fehler gemacht habe, habe ich in dem Moment gesagt bzw. per SMS geschrieben, als es sich für mich nicht mehr wie etwas, für das ich mich schuldig fühlen und schämen muss, angefühlt hat. Als ich durch Gegenvorwurf und Selbstmitleid durch war. Als ich anerkennen konnte, dass ich etwas übersehen habe. Etwas, was total naheliegend war. Was ich hätte sehen können. Dass ich einen Fehler gemacht habe, habe ich geschrieben, als ich nicht mehr im richtig/falsch-Denken war und zu dem stehen konnte, was mir schwer fiel zuzugeben.

Wenn ich ganz ehrlich bin, haben mich schon andere Menschen darauf hingewiesen, dass ich diese Sache, von der mein Bruder mit heftigen Worten gesprochen hat, manchmal übersehe. Menschen, die ich liebe. Menschen, die mir nahe sind. Sie alle haben mich auf ihre Weise auf meinen Schatten aufmerksam gemacht. Ich hab’s gehört, aber so wirklich sehen wollte ich ihn nicht. Es ist nämlich nicht besonders angenehm, dorthin zu schauen.

Jetzt sehe ich ihn und will etwas verändern. Ich will mich verändern. Ich habe nur ein vages Gefühl, wie das gehen kann. Aber dem will ich unbedingt folgen. Den Schatten in mir anzuerkennen, ohne ihn weg- oder schönzureden, ist schon mal ein guter Anfang.

 

27. April 2021

Hast du schon mal ein Ritual selbst entwickelt? Und dafür Worte, Gesten oder einfache Bewegungen zusammengesetzt und diesen Ablauf mit Bedeutung aufgeladen? Denn nur wenn wir den Worten und Handlungen einen Sinn geben, kann aus der Wiederholung ein lebendiges Ritual werden, das kraftvoll und verändernd in unser Leben hineinwirkt.

Ich habe den Winter damit verbracht, mich jeden Morgen so einem selbst entwickelten Ritual zu widmen. Mit ein paar einfachen und klaren Worten habe ich ausgesprochen, was mein Verhalten in der Vergangenheit geprägt und was sich damit für mich erfüllt hat. Dann habe ich es mit einer Bewegung, die für mich die Bedeutung von 'in Würde loslassen' hatte, aus meinem Leben verabschiedet. Ich habe mich dem Jetzt zugewandt und benannt, wo ich gerade stehe. Dafür habe ich Gesten gefunden, die Anerkennen ausdrücken. Schliesslich habe ich mich auf den weiten, grossen Raum vor mir konzentriert und beschrieben, was ich in mein Leben einladen möchte: wovon ich mehr möchte und welche neuen Erfahrungen ich mir wünsche. Ich war konkret und habe doch Spielraum gelassen, um dem Leben zu signalisieren, dass ich offen dafür bin, dass sich meine Sehnsucht anders erfüllt, als ich mir es ausgemalt habe;-)

Vieles von dem, was mir im Kopf klar war, konnte in den Körper rutschen und ich konnte kleine, feine Veränderungen in meinem Denken und Verhalten feststellen...

Weil das so gut funktioniert hat bzw. weil ich aus eigener Erfahrung weiss, dass wir unzufrieden und depressiv werden, wenn wir uns den wenig dienlichen Gedankenmustern von Ärger, Schuld und Scham nicht zuwenden, biete ich dazu ab 11. Mai einen online-Workshop an:

„Ärger, Scham und Schuld - moving beyond

Hast du Lust darauf, dich von innen nach aussen zu verändern? Das Tolle ist ja, dass alle Menschen in unserem Leben etwas davon haben, wenn wir zu mehr Klarheit und Lebendigkeit, Fülle und Ausrichtung finden...